Die Kraft des Vielfalters
von Barbara Lehmann
Ich sehe den zarten Schmetterling. Er tanzt leicht zwischen Wiesenklee und Kornblumen. Ich weiß auch von Elefanten. Sie sind groß und schwer und fliegen meistens nicht. Der mächtige Felsen dort fordert mich zum Klettern heraus. Er ist auch ein geduldiger Rücken für feinste Landkartenflechten. Die dicke Pappel steht ruhig und fest und ihre Blätter spielen oben im Wind. Ich bin ein Erdenmensch. Mitten in dieser Welt.
Ich bin ich. Ich habe grüne Augen, kurze Haare und Fahrradfahren macht mir Spaß. Ich werde gerne gekitzelt und wäre gerne mal ein Adler. Manches an mir kann man sehen. Das meiste jedoch nicht. Und es ist auch nicht immer gleich. Ich selbst spüre was ich gerne mag und was mich froh macht. Manchmal bin ich traurig, manchmal wütend. Ganz viel ist in mir drin. Ein großer verborgener Schatz.
Was können die Anderen von meinem inneren Schatz sehen? Was zeige ich gerne, was halte ich lieber verborgen? Was ist es, das mir hilft, das Schöne in mir drin zu finden? Was entdecken andere für mich und zaubern es hervor? Und Du, wie ist das bei Dir? Welche Schätze trägst Du in Dir? In der dicken Raupe steckt schon der tanzende Schmetterling. Kannst Du Dir das vorstellen?
Es steckt so viel Kraft in den kleinen Dingen. Ein freundliches Wort kann mich wachsen lassen. Ein böser Blick kann ganz schön weh tun. Ein Lächeln vermag mich innerlich so groß zu machen wie eine prächtige, weiße Wattewolke und stärker als hundert Elefanten. Macht wirklich ein Wort, ein Blick, ein Lächeln von mir einen Unterschied? Ja, ganz gewiss. Der sanfte Flügelschlag eines Schmetterlings vermag die Welt zu verändern.
Viele Kräfte wirken auch, obwohl ich sie gar nicht sehen kann. Ihre Wirkung zeigt sich vielleicht an einem mir unbekannten Ort, vielleicht erst nach langer Zeit. Wie ein Samenkorn in der Erde. Und wenn jemand Licht und Wasser schenkt, kann es sich entfalten. Ich selbst bin für andere manchmal der entscheidende Tropfen und ein wohltuender Lichtblick.
Ohne die Anderen wäre ich anders. Manches möchte ich gerne von den anderen Menschen lernen. Ich strecke mich und fange ihre Gedanken auf. So manches von den Anderen kommt auch einfach so zu mir, unbemerkt und ohne mein Zutun. Aus Deinem und Meinem entsteht etwas Neues. Unsere Einzeltöne spielen zusammen und werden Musik. Vielstimmig und schön erklingt unser gemeinsames Werk in der Welt. Musik, gewebt aus der Kraft der Vielfalt. Ich selbst klinge in ihr. Ich selbst bin Teil dieser Musik, mutig und stark.
Ich mache meine Ohren, meine Augen und auch mein Herz ganz groß. Gelingt es mir, Dich zu hören? Auch die ganz leisen Zwischentöne? Ich bin aufmerksam für den Schatz um mich herum und im anderen Menschen drin. Staunend stehe ich in der bunten Vielfalt und spüre die Kraft der Fülle.
Neugierig und offen gehe ich durch unsere Welt. Bereit, Verborgenes zu entdecken, Rätselhaftes zu entschlüsseln, Klangfarben zu erspüren. Ich träume vom Vielfalter. Ich bin ein Vielfalter. Ich bin ein Wesen, das mit seinem zarten Flügelschlag jeden Tag schöne Überraschungen schenkt. Und die Welt bunt macht. Und schön. Und hell. So wie ich es bin.
Und tief in mir drin
breitet ein Elefant
seine bunten Flügel aus
und setzt sich zart
in meine Hand